Eröffnung "Hände". Sammlung Dr. med. Thomas und Barbara Gottorf

von Dr. Uwe Degreif

Sehr geehrte Eröffnungsgäste,

vermutlich ging es Ihnen ähnlich wie mir: der erste Durchgang durch diese Ausstellung gleicht ein wenig einem Irrgarten. Man schaut von einer Stellwand zur nächsten, trifft auf unterschiedliche Techniken und unterschiedliche Künstler. Man will sich orientieren und fragt sich, was die einzelnen Kunstwerke über die Tatsache, dass die Hand das zentrale Motiv bildet und dass sie vom selben Sammlerehepaar erworben wurden, miteinander verbindet. Der Eindruck von Vielstimmigkeit herrscht vor, so als würde zeitgleich in ganz unterschiedlichen Sprachen gesprochen.

Diese Beobachtung soll zu einer ersten Feststellungen führen: Vielfalt ist ein Kennzeichen dieser Sammlung. Sie ist keinem Stil verpflichtet, man findet Werke der Pop Art und der Konzeptart, des Minimalismus, des Neoexpressionismus und des Gestischen. Zwar gibt es keine Werke der Malerei, aber fast alle anderen künstlerischen Techniken sind vertreten. Jedes Werk fordert eine andere Sicht, jedes will eine andere Beurteilung, da ist man als Betrachter ganz schön gefordert.Welcher Eindruck drängt sich noch auf? Es geht nicht allgemein um Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, sondern um Darstellungen nach 1945, vorwiegend um Kunst ab den 1970er Jahren. Wir befinden uns also in einer Epoche die man als Gegenwartskunst bezeichnet. Vielfalt und Gegenwartskunst sind zwei verbindende Merkmale dieser Sammlung. Gibt es weitere?

Um auf eine Spur zu gelangen empfiehlt es sich zu fragen, welche früheren Bedeutungen der Hand im heutigen Kunstschaffen nicht mehr präsent sind, was alles nicht dargestellt wird. Ich möchte dies für einen Moment tun. So findet sich unter den Werken keine Schwurhand. Die zum Schwur erhobene Hand ist heute kein gebräuchliches Zeichen mehr und auch in der Kunst der letzten 100 Jahre taucht sie nicht auf. Auch der Handschlag als Akt der Begrüßung, wie als Zeichen für ein Einwilligen in einen Handel fehlt. Offensichtlich haben die ineinander verschränkten Hände ihre zeichenhafte Funktion verloren. Nach den zum Gebet gefalteten Händen, einem unmissverständlichen Zeichen für die Hinwendung zu Gott, sucht man ebenfalls vergebens. Als "Erhobene Hände" waren die nach oben gereckten Arme über viele Epochen bildnerischer Ausdruck für Schmerz und Trauer.

Heute: Fehlanzeige. Wie auch der nach oben weisende Zeigefinger, der den Malern immer wieder als Verweis auf die höhere Ebene diente, auf die Welt des Göttlichen. Wir kennen allenfalls den nach oben gerechten Mittelfinger als Zeichen der Provokation. Michelangelos Fresko "Erschaffung Adams" in der Sixtinischen Kapelle in Rom ist fast jedem von uns gegenwärtig, dort erschafft Gottes den Menschen, in dem er ihn durch Berühren zum Leben erweckt. Für den göttlichen Akt der Erschaffung des Menschen interessieren sich Künstler schon lange nicht mehr, er taucht allenfalls als ironisches Zitat in der Popmusik auf. Und es fehlen weitere ehemals populäre Darstellungen: Verläufe und Vertiefungen von Handlinien wurden immer wieder für Weissagungen benutzt, um etwas über die Zukunft zu erfahren oder um einen Schicksalsschlag zu erklären. Heute sind Handlinien allenfalls von grafischem Interesse. Und es ist egal, ob einer eine rechte oder eine linke Hand darstellt, diese Unterscheidung war einmal wichtig. Manchen Künstlern wurde die Hand zur Maßeinheit. Albrecht Dürer und Leonardo da Vinci vermaßen mit ihr den Kopf und den Körper, eine Handlänge entspricht der Gesichtslänge und ein Körper misst 6-7 Kopflängen. Auch ein solcher phänomenologischer Blick findet sich nicht mehr.

Verallgemeinert gesprochen: Fast alles Bedeutungen, die die Hand als Zeichen für Recht und Glauben einst hatte, bleiben ohne Nachfolge. Kaum etwas davon findet sich noch in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Hand und ihre Finger sprechen nicht mehr, zumindest nicht mehr in einer Sprache, deren Zeichen uns von früher her geläufig sind. Dennoch gibt es weiterhin Handdarstellungen. Wofür also steht die Hand heute? Gibt es etwa neue Inhalte?

Ich möchte diese Frage mit zwei Antworten bejahen, wenn auch auf eine etwas allgemeine Weise. Erste Antwort: Die Hand in der Gegenwartskunst wird zu einem Verweis auf den Menschen an sich, die Gestalt von Handrücken und Fingern belegen sein Zugegensein. Die Hand tut dies weit aus persönlicher als bspw. ein Fuß. Vor allem aber verweist sie auf den Menschen als einem Individuum. Dies zeigt sich in der Dominanz der Subjektivität. Jedes Werk lässt eine eigene Handschrift erkennen. Die Art und Weise wie ein Künstler etwas darstellt ist Ausdruck seiner Eigenständigkeit, man könnte auch sagen seiner "Eigenhändigkeit". Eigenhändigkeit steht für Unverwechselbarkeit, steht für künstlerische Individualität. Jeder Künstler sucht nach einem eigenen Zugang zum Motiv, will die Hand auf eine nur ihm eigene Weise darstellen. Ums rein Individuelle ging es keiner der früheren Hand-Darstellungen, stets standen Hände im Dienst einer Aussage, wollten etwas Verallgemeinerbares zum Ausdruck bringen, etwas, das die Menschen einer Zeit miteinander verband. Heute geht es um die Differenz, darum, worin wir uns von anderen unterscheiden und zu Individuen werden. Deshalb spricht jede Hand ein wenig anders. Man könnte sagen, darin liegt das neue Verbindende.



Aber nicht nur die Künstler forcieren die Individualität, auch wir Betrachter haben einen Vorteil. Für die Interpretation von Kunst nach 1945 hat sich der Begriff des 'offenen Kunstwerks' etabliert. Er besagt, dass die Bedeutung eines Kunstwerks nicht nur vom Künstler festgelegt wird, sondern ebenso vom Betrachter. Ein modernes Kunstwerk erlaubt unterschiedliche Zugänge und will nicht nur eine, sondern mehrere Antworten ermöglichen, je nachdem wie die Fragestellung lautet. Als Betrachter sind wir am Formulieren der Antworten beteiligt, machen das Kunstwerk zu einem 'offenen' Kunstwerk.

Die zweite Antwort: Viele Werke in dieser Sammlung zeigen die eigene Hand des Künstlers. Er hat sie zu seinem Modell gemacht, sie repräsentiert ihn und belegt seine bildnerische Tätigkeit. Die Künstlerhand ist die Schöpferhand. Stellvertretend sei das Plakat zum Projekt FLAGGE ZEIGEN von Rosemarie Trockel genannt, auf dem die Hand der Künstlerin für sie als Schöpferin und sogar für ihre weltanschauliche Haltung steht.

Sehr geehrte Eröffnungsgäste,

jede Sammlung trägt biografische Züge, unabhängig davon, ob einer Kunst oder Hüte oder Postkarten sammelt. Aus meiner Sicht liegen dieser Sammlung biografisch bedingt zwei unterscheidbare Kriterien zugrunde: das eine Kriterium schätzt die Ausführung, erfreut sich an den bildnerischen Fertigkeiten eines Künstlers, das andere Kriterium schätzt das Nachdenken über das Motiv. Der eine Blick würdigt Werke, die aus dem Machen heraus entstehen, der andere favorisiert stärker den ideengeleiteten, oder, wie man heute sagt, den konzeptuellen Zugang. Barbara Gottdorf betont in einem Interview: "Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer es ist eine Hand gut wiederzugeben, sie zu zeichnen oder zu radieren, mit all den Knochen und der Haut". Sie unterstreicht damit, wie sehr ihr Blick als Künstlerin den Verlauf des bildnerischen Prozess wahrnimmt. Dieser Blick findet eine Entsprechung in den grafischen Techniken, in der Zeichnung, im Aquarell, in der Radierung, quasi im direkten Ausdruck und der Geschicklichkeit der Ausführung. Das Flüchtige und Spontane rückt ihr besonders in den Blick, künstlerisches Handeln und Empfindung verbinden sich. Stellvertretend seien die Zeichnungen von Carsten Nicolai und Antoni Tapies oder die Radierung von Horst Janssen und Eduardo Chillida genannt.

Thomas Gottorf favorisiert einen etwas anderen Zugang. Dieser ist eher abwägend und will zu etwas Kategorialem gelangen. "Wenn es eine Darstellung ist, wie ich eine Hand noch nicht gesehen habe, wenn sie mir eine andere Bedeutung vermittelt, dann bin ich dahinter her". Diesen eher konzeptuellen Zugang belegen bspw. das Plakat von dem Künstlerduo Gilbert & Georg oder die Fotografien von Daniele Buetti. Hier steht der intellektuelle Prozess am Beginn, die bildnerische Umsetzung folgt dem.

Mit Begrifflichkeiten der Hand könnte man abschließend formulieren: die eine Intention dieser Sammlung schätzt das Zu-Greifen, die andere das Be-Greifen. In der Summe ergibt sich eine vielfältige Verbindung zur Alltagskultur, zur Warenwelt. zur Wissenschaft, zur Poesie, zur Mystik, zur Musik und selbst zum Sport.

Dr. Uwe Degreif, Kunstverein Biberach, 06. Juni 2014


Rechts Barbara Gottorf und Dr. med. Thomas Gottorf

Quelle: Weberberg.de